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Mittwoch, 9. September 2015

Scheera

Scheera war die Tochter von Ephraim, einem der Stammväter Israels. Eine außergewöhnliche Frau, die ganz anderes tat als das, was man von Frauen erwartete.

Tochter Ephraims – eine Ephraimstochter? Da gab es doch … genau: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Ephraimstochter Langstrumpf. Das Mädchen, das Bärenkräfte hatte und sich nie um das scherte, was sich gehörte. Eine Ephraimstochter – und jetzt auch in der Bibel?

Ephraim hatte zunächst drei Söhne: Schutelach, Eser und Elad. Die waren mutig und unternehmungslustig, aber am Ende hatten sie sich verschätzt: Ihre Gegner waren zu stark für sie.
„Sie wurden getötet, als sie versuchten, Vieh von den ortsansässigen Bauern bei Gat zu stehlen. Ihr Vater Ephraim trauerte lange um sie und seine Verwandten kamen, um ihn zu trösten. Danach schlief Ephraim wieder mit seiner Frau und sie wurde schwanger und bekam einen Sohn. Ephraim nannte ihn Beria, wegen des Unglücks, das über seine Familie gekommen war.“ (1. Chronik 7,21-23)

Ein Familiendrama – eine traumatische Erfahrung für den Vater. Der vierte Sohn trägt das aus, auch durch seinen Namen, in dem das Wort für „Unheil“ anklingt. Es war damals in Israel nicht ungewöhnlich, Kinder nach erschütternden Ereignissen zu nennen: Ikabod hieß so, weil Gottes Herrlichkeit aus Israel ausgewandert war; Jabez’ Name erinnerte daran, dass seine Mutter ihn mit Schmerzen geboren hatte. Aber wie diese Jungs mit ihren Namen zurechtkamen, ist nicht überliefert.

Für Vater Ephraim war die Welt jetzt wohl wieder einigermaßen in Ordnung. Ein Sohn war wieder im Haus. Aber …
Ephraim hatte auch noch eine Tochter: Scheera. (Gesprochen: Schä-ärá.) Ob sie erst nach den drei getöteten Söhnen zur Welt kam, wird nicht berichtet. Vielleicht lebte sie auch schon vorher – dann schien sie aber als Tochter nicht groß ins Gewicht gefallen zu sein, zumindest war sie kein Trost für den Vater, dem es auf einen lebendigen Sohn ankam.
„Ephraim hatte eine Tochter namens Scheera. Sie erbaute das untere und das obere Bet-Horon und Usen-Scheera.“(1. Chronik 7,24)

Man muss schon zweimal hinsehen, um zu erfassen, was hier so beiläufig in den Bericht eingestreut wird: Scheera war eine Städtegründerin und zog drei Städte hoch. Als Frau. Im Schatten der toten Brüder und des lebenden Bruders. Schatten … der war allerdings nicht so dunkel, das sie völlig darin verschwunden wäre. Der Bericht der Bibel beleuchtet wenigstens, was sie tat.

Eine Städtebauerin: Damit spielt sie in der Bibel in der gleichen Liga wie Nimrod, der erste Gewaltherrscher auf Erden, wie Josua, der Nachfolger von Mose, und wie Salomo, der König mit dem größten Reich in der Geschichte Israels (1. Mose 10,11; Josua 19,10; 1. Könige 9,17). Wie sie das gemacht hat? Hat sie selbst Lehm gerührt und Ziegel geschichtet? Oder eher die Pläne gezeichnet? Oder Handwerker akquiriert und die Logistik verwaltet? Oder alles zusammen? Hier liegt wieder Schatten über ihrer Geschichte – man weiß es nicht.

Eins aber ist klar: Sie muss eine weitblickende Strategin gewesen sein. Denn zwei der Städte, die sie baute, das obere und das untere Bet-Horon, sind strategisch außerordentlich günstig gelegen: am unteren und oberen Ende einer engen Passstraße. Wer hinauf auf die Höhe oder in Gegenrichtung ins Tal wollte, konnte nur diesen Weg nehmen und musste die beiden Städte passieren. Für Handelswege und Verteidigung waren solche strategischen Orte unschätzbar wertvoll. In mehreren Feldzügen spielte die Doppelstadt eine Rolle.

Wer die Familiengeschichte von Ephraim weiter liest, arbeitet sich durch eine Reihe von Namen und Generationenfolgen vor bis zu Josua, dem Sohn von Nun (1. Chronik 7,27). Dieser Nachfolger von Mose also war ein x-ter Urenkel von Ephraim. Kurze Zusammenfassung zur Erinnerung: Ephraim war Enkel und dann Adoptivsohn von Jakob. Er und seine Brüder – die Söhne Jakobs – wurden zu den Stammvätern Israels: Die zwölf Stämme tragen ihre Namen. Die Familien dieser Zwölf gelangte auf abenteuerlichem Weg nach Ägypten, vermehrten sich dort außerordentlich und wurden deshalb von den Ägyptern – die Angst vor Überfremdung hatten – als Sklaven gehalten. Gott befreite das Volk schließlich, ließ es eine Generation lang durch die Wüste ziehen – und dann konnten sie sich im Land Kanaan ansiedeln. Jeder Volksstamm füllte ein bestimmtes Gebiet. Josua, der x-te Enkel Ephraims, leitete das an. So die zusammenfassenden Überblicksberichte der Bibel.

Zum Gebiet des Stammes Ephraim gehörte unter anderem auch eine geografisch sehr günstig gelegene Doppelstadt: Bet-Horon. Die Gründung von Scheera. Jahrhunderte lang war Israel weit entfernt von diesem Land gewesen (als es in Ägypten lebte), aber jetzt, nach Generationen, kamen sie zurück – und Bet-Horon kam zum Stamm Ephraim zurück. Eine unglaubliche Nachwirkung dessen, was Scheera getan hatte. Die Doppelstadt Bet-Horon war seitdem so hochgeschätzt, dass König Salomo sie später selbst zu Festungen ausbaute.

Ephraim, möchte man ihn fragen, wusstest du, was du für eine Tochter hast? Hast du mitbekommen, was die auf die Beine gestellt hat? Oder hast du dich auf deine Söhne konzentriert und alles war gut, als du endlich wieder einen bekamst? Ephraim, mach die Augen auf und schau mal hin, was deine Tochter Scheera für eine Frau ist!
Und falls du gemerkt hast, was Scheera drauf hatte – warst du dafür oder dagegen gewesen? Hast du sie desinteressiert machen lassen oder hast du sie ermutigt und gefördert? Oder – was vielleicht die schlechteste aller Möglichkeiten wäre – warst du erst dagegen, hast dann aber mit ihr angegeben, als sie es geschafft hat?

Scheera, wie kamst du nur auf die Idee, drei Städte zu bauen? Hast du darum kämpfen müssen, dass man deinen Plänen folgte? Hättest du geahnt, was für eine unfassbar lange Nachgeschichte dein Werk haben würde? Dass dein Volk Generationen später davon profitieren würde?

Und du, Berichterstatter des Chronikbuches, was hast du gedacht, als du die Notiz über Scheera fandest? Warst du verblüfft, vielleicht sogar begeistert von dieser Frau? Oder konntest du dir gar nicht vorstellen, warum dieser Hinweis in das Generationenverzeichnis der Männer eingestreut war? Ob du einen Moment in der Versuchung gestanden hast, diese Notiz unter den Tisch fallen zu lassen? Oder hast du es mit Ehrfurcht niedergeschrieben – Ehrfurcht davor, dass es einen Gott gibt, der Menschen nicht eingrenzt in das, was man allgemein von ihnen erwartet, sondern der jeden persönlich nach seinen Möglichkeiten und Grenzen leben lässt, der jedem ins Herz sieht und dem es darauf ankommt, dass jeder das auslebt, was Gott in ihn hineingelegt hat? Der wollte, dass eine Scheera ihre Städte baute?

Gott sei Dank, dass der Hinweis auf Scheera nicht verloren ging, sondern seinen Platz in Gottes Wort gefunden hat: als Erinnerung daran, dass Ausnahmemenschen immer ihren Raum vor Gott haben, dass die Wirkung des eigenen Tuns und Lassens hoffnungsvoll weit über die eigene Lebenszeit hinaus reichen kann und dass es weise ist, genau hinzusehen und über das Besondere von Menschen zu stolpern.