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Samstag, 11. September 2010

Das Portal zu Gottes Gegenwart

Das Alte Testament enthält – im 2. Chronikbuch – einige Details zur Architektur des Tempels, wie Salomo ihn baute. Dabei erfahren wir auch etwas über das Eingangsportal zum Tempel – zu Gottes Gegenwart:

„Für die Vorderseite des Hauses machte er zwei Säulen von achtzehn Ellen Höhe. Das Kapitell auf ihnen maß fünf Ellen. Dazu schuf er kettenförmige Bänder und brachte sie oben auf den Säulen an. Auch machte er hundert Granatäpfel und befestigte sie an den kettenförmigen Bändern. Die Säulen stellte er vor dem Tempel auf, die eine auf der rechten, die andere auf der linken Seite. Die rechte nannte er Jachin, die linke Boas.“ (2. Chronik 3,15-17)

Wer in den Tempel ging, dessen Weg führte also zwischen diesen beiden Säulen hindurch.
Diese biblische Notiz gibt zu denken.

1. Es spiegelt sich hier das hebräische Schreiben: Man schreibt von rechts nach links. Wir hätten die linke Säule zuerst genannt – in diesem Bericht fängt es mit der rechten an. Dementsprechend müsste man es auch in einen Grundriss einzeichnen. Die farbige Illustration zu einer neuen Ausgabe der Übertragung „Hoffnung für alle“ hat die Säule „Jachin“ nach links und „Boas“ nach rechts versetzt. Vermutlich ein Versehen des Grafikers, der ganz automatisch (und un-hebräisch) von links nach rechts dachte.

2. Die beiden hebräischen Namen der Säulen klingen für uns beide gleichermaßen fremdartig. Im Hebräischen haben diese Namen aber einen ganz verschiedenen Sprach-Charakter. Beide sind eigentlich kleine Sätze – in einem Wort.
„Jachin“ bedeutet: „Er wird aufrichten“ oder „Er gründet fest“. Gemeint ist natürlich Gott. Ein Satz, der aus nur einem Verb besteht: Ein Satz voller Handlung, Aktion, zusammengezogen in einem Wort.
„Boas“ bedeutet: „In ihm ist Kraft.“ Dieser Satz ist eine Zusammensetzung von zwei Wörtern. Wörtlich heißt es: „In-ihm-Kraft“. Dabei ist „in ihm“ der eine und „Kraft“ der andere Bestandteil. Die Sprachform dieses Satzes heißt Nominalsatz. Das Verb fehlt und wird sinngemäß ergänzt: „In-ihm-[ist]-Kraft“. Dieser Name, dieser Satz klingt also vom Sprachcharakter her statisch. Zwei Ausdrücke werden zusammengesetzt und miteinander verbunden – quasi „1+1“. (Eine hebräisch gängige und korrekte Ausdrucksweise.) Dagegen ist „Jachin“ ein mit Bewegung aufgeladener Ausdruck, nicht statisch, sondern dynamisch.

Das Portal zu Gottes Gegenwart ist flankiert von zwei sehr unterschiedlichen Gebilden: einem bewegten und einem festen. (Die alte griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, hat diese Spannung eingeebnet und zwei Begriffe daraus gemacht: „Gründung“ und „Stärke“. Begriff neben Begriff. Nur noch Statik. „Stein auf Stein, Stein auf Stein“ – ein solcher Sprachcharakter an dieser Stelle. Schade.)

3. Das Subjekt von „Jachin“ ist Gott. „Jachin“ sagt: Er tut. Er hat das Heft des Handelns in der Hand. Das Subjekt von „Boas“ ist eine Sache: Kraft. Der Name der rechten Säule knüpft bei einer Person an – bei Gott selbst. Der Name der linken Säule knüpft dagegen bei einem Gegenstand an, einem „Thema“.

4. Wer den Weg in Gottes Gegenwart sucht (im Gebet, im Gottesdienst, in der Heiligen Schrift, in der Stille …), hat meist seine Bedürfnisse. Das ist ur-menschlich. Das ist vor Gott in Ordnung so und ehrt ihn, wenn Menschen mit ihren Bedürfnissen nicht bei sich bleiben, sondern zu ihm kommen. Viele suchen bei Gott Hilfe für ihr Leben und nicht selten beten sie um Kraft.

Wer durch das Zwei-Säulen-Portal in Gottes Gegenwart kommt, der erfährt: Mein Bedürfnis, mein Thema, das ich mitbringe, kommt hier vor. Aber es ist nicht das Ganze. Es wird an seinen begrenzten Ort gestellt. Das Gegenüber zu „meinem Thema“ ist – Gott selbst. Das, was er will. Er handelt. Es geht um mich – aber es geht nicht allein um mich. Nicht nur ich will etwas vom Leben. Gott will auch etwas. Ich bin angewiesen auf die nötige Kraft, ja; ich bin angewiesen auf mein tägliches Brot. Aber darüber hinaus ist Gott da, der etwas tut: sein Reich aufrichtet. Gott, der etwas will – sogar fordert: dass sein Name geheiligt wird, dass sein Wille geschieht.

Mein Bedürfnis, „mein Thema“ wird dadurch nicht heruntergespielt. Aber begrenzt. Der Weg in Gottes Gegenwart hinein durch dieses Zwei-Säulen-Portal formt mich. Da muss ich durch.

5. „Jachin“ sagt: Du kommst wirklich in Gottes Gegenwart. Du kommst zu einem handelnden, bewegten, lebendigen Gott. – Ich werde also weggezogen von mir. Meine Verkrümmung in mich selbst wird aufgebrochen. Ich werde von mir weg, zu ihm hingezogen. Ich kann mich auf ihn verlassen: mich selbst verlassen, in Richtung auf ihn hin. Das richtet mich auf, hebt meinen Blick.

„Boas“ sagt: Kraft ist in ihm. Richte dich also auf ihn aus. Bleib nicht hängen in deinen Bedürfnissen. Sei bereit, das Thema zu wechseln. Kraft? Ja, er weiß, dass du sie brauchst. Sie ist in ihm. Orientiere dich um, weg von der Gabe, hin zum Geber.

6. „Jachin“ sagt aber auch: Er handelt, er tut, er will – aber für seine Menschen. Die richtet er auf. Die gründet er fest. Darauf zielen seine Absichten. So sehr es um Gott geht und um das, was er will – Gott muss nicht aufgerichtet werden. Nicht gegründet werden. Gott ist ewig aufrecht und fest. Er richtet auf – an anderen also tut er das. Weil Gott – in all seiner Heiligkeit – nichts als Liebe ist, handelt er rettend und segnend an seinen Menschen. „Jachin“ beschreibt diese Ausrichtung Gottes. Schon sein geheimnisvoller Name „JHWH“ sagte ja: Ich bin (nicht an und für sich, nicht nur für mich, sondern) für euch da.

Wenn ich in Gottes Gegenwart gehe und wenn mich „Jachin“ daran erinnert, dass ich von mir loskommen und mich auf ihn hin orientieren muss – dann merke ich zugleich: Für mich ist dann doch gesorgt. Ich verliere mich in ihn, komme selber aber nicht zu kurz dabei. Jesus (der den Tempel Salomos mit den beiden Säulen nie betrat, weil der längst zerstört und ersetzt war) – Jesus sagte: Wer sein Leben verliert, wird es finden.

„Boas“ sagt auch: In ihm ist sie: die Stärke. Das, was ich brauche, finde ich in ihm. Ich finde Gott und damit das, was ich sonst noch nötig habe. In ihm ist nicht Gleichgültigkeit, nicht Willkür, nicht despotische Unterwerfungs-Forderung, sondern Stärke. Für mich ist gesorgt in ihm.

7. Wenn ich in Gottes Gegenwart gehe, dann suche ich heute keinen Tempel auf. Er lässt sich vielmehr finden im Gebet, im Gottesdienst, in der Heiligen Schrift, in der Stille, wenn ich dienend etwas für andere tue … Die beiden Säulen sind Geschichte. Aber dennoch nicht von gestern. Sie beschreiben zunächst ein Bewusstsein, das angemessen ist und mich in guter Weise formt, wenn ich Gott aufsuche.

Bewusstsein prägt sich aber oft durch äußere Gegebenheiten. Also wäre es doch ein guter Vorschlag für heutige Kirchenarchitekten, rechts und links an die Kirchentür Säulen oder Tafeln mit „Jachin“ und „Boas“ anzubringen? Sollte ich mir Schilder an meine Haustür machen – auch zu Hause lebe ich ja im Namen Gottes und erwarte sein Reich?
Oder Zettel rechts und links an den Türrahmen meiner Bürotür? Oder an die Ränder meines Bildschirms? Als Zeichen der Rahmenbedingungen meines "Gottesdienstes im Alltag"?
Soll ich „Jachin“ auf den vorderen Buchdeckel meiner Bibel schreiben und „Boas“ auf den hinteren? Vielleicht könnte ich leise „Jachin“ und „Boas“ vor mich hinmurmeln, bevor der Gottesdienst beginnt?

Egal, welche Form ich finde: Das Zwei-Säulen-Portal als Zugang zu Gottes Gegenwart sollte nicht im 2. Chronikbuch versteckt und vergessen bleiben. Ich möchte mich daran erinnern. Ich will da durch müssen und geformt werden.