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Mittwoch, 19. November 2025

Homosexualität und Bibel – Blick auf ein untaugliches Argument

– Ein Mosaikstein –

„Homosexualität in der Bibel“ – das Thema hat viele Facetten. Dieser Beitrag fokussiert sich auf einen einzigen Aspekt von vielen; vermutlich ist es ein Nebenschauplatz. Doch er verdient Beachtung. Im Gesamtbild der Thematik ist dies nur ein einzelner Mosaikstein.

Unter den vielen Argumenten, die dafür angeführt werden, dass man aus biblischer Sicht praktizierte Homosexualität ablehnen solle, ist auch dieses:

„An keiner Stelle der Bibel erscheint Homosexualität in einem positiven Kontext.“ Oder: „Gleichgeschlechtliche Liebe wird in der Bibel immer nur in negativen Zusammenhängen erwähnt.“


Negativer Kontext – ein stichhaltiges Argument?

Ist dieses Argument stichhaltig? Im Blick ist dabei die Argumentationsstruktur. Im Folgenden wird nicht die Frage diskutiert, ob es vielleicht doch Stellen in der Bibel gibt, die Homosexualität positiver bewerten. Vielmehr geht es um die Frage: Was für eine Aussagekraft hat es, wenn in der Bibel ein bestimmter Sachverhalt nur negativ konnotiert ist? Ist das eine ausreichende Basis, um Schlussfolgerungen für Dogmatik oder Ethik daraus zu ziehen?

Ich persönlich habe lange darüber nachgedacht, ob es andere Beispiele in der Bibel gibt, die man entsprechend bewerten würde. Bei zwei Linien werden wir schnell fündig:

  Es gibt viele Lebenserfahrungen, die eine Abweichung vom Durchschnitt darstellen – und die in der Bibel (auch) in positivem Licht dastehen. Ungewollte Kinderlosigkeit, Behinderungen, Menschen als Leitragende von Gewalt, Ehelosigkeit innerhalb einer Kultur, in der die Ehe eine Norm darstellt – all das sind Arten von „Ausnahmeerfahrungen“. Und in der Bibel finden wir Beispiele, die zeigen, dass Gott sich der betreffenden Menschen annimmt, sie in sein Handeln einbezieht, dass sie keineswegs von der Gottesnähe ausgeschlossen sind. Das gilt, obwohl diese Erfahrungen und Lebensumstände weitgehend nicht Gottes ursprünglichen Schöpfungsentwurf widerspiegeln.

•   Es gibt daneben viele Lebenserfahrungen, die ebenfalls nicht im Sinne des Schöpfers sind und die in der Bibel klar negativ bewertet werden: Lüge, verübte Gewalt, Unterdrückung, Habgier, Zerstörung des Rufs anderer … Die negative Bewertung in der Bibel signalisiert hier deutlich: Gott lehnt das ab und er möchte nicht, dass Menschen diese Wege wählen.

Zu welcher dieser Linien gehört nun Homosexualität? Nach der verbreiteten Argumentation konservativer Glaubender gehört sie eher zu der zweiten Linie.


Ein Fallbeispiel

Allerdings können wir mindestens eine Lebenserfahrung bzw. einen Lebensumstand identifizieren, für den gilt:

•   Er wird in der Bibel nie positiv bewertet oder konnotiert;
•   er spiegelt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht oder kaum Gottes Schöpfungsentwurf wider;
  die betreffenden Menschen sind weitgehend in Gottes Handeln einbezogen, sie sind nicht von der Gottesnähe ausgeschlossen, von ihnen wird nicht erwartet, dass sie ihre Befindlichkeit um jeden Preis überwinden oder ablegen. Diese Erfahrung ist nicht per se als Sünde zu bezeichnen.

Was für ein Lebensumstand ist das? Ich spreche von der Mehrgewichtigkeit / Adipositas / Fettleibigkeit.

Wir wissen heute, dass Adipositas auf viele verschiedenen Ursachen zurückgehen kann. Ungünstige Ernährung ist eine davon, daneben spielen die Genetik eine Rolle, kulturelle Prägung, psychische Faktoren, Nebenwirkung von Medikamenten und auch bestimmte Krankheiten, bei denen Adipositas zum Krankheitsbild gehört. Nicht zu vergessen sind soziale Faktoren: Im Durchschnitt sind Menschen mit geringerem Einkommen, geringerem Bildungsstand und niedrigerer beruflicher Stellung häufiger mehrgewichtig.

Klar ist: Die meisten Menschen haben es sich nicht ausgesucht, adipös zu sein. Sie finden sich irgendwann in diesem Status vor. Sicherlich gibt es auch Fettleibigkeit, die von fahrlässig ungesunder Ernährung gefördert wird, von Maßlosigkeit im Essen oder von leichtfertig unterlassener Bewegungsroutine im Alltag. Dennoch wäre es falsch, lieblos und ethisch verwerflich, bei adipösen Menschen zunächst einmal anzunehmen, sie seien selbst schuld an ihrem Zustand und sie könnten sich verändern, wenn sie es nur wollten. Das trifft auf einen erheblichen Teil der Betroffenen nicht zu!

Gleichzeitig wird man sagen können: Der Idealzustand im Sinne des Schöpfers ist das nicht. Adiposität bringt wohl nicht selten ein gewisses Maß an Leiden mit sich, selbst wenn man den gesellschaftlichen Druck unberücksichtigt lässt.

Krankheit oder ähnliche Umstände trennen jedoch nicht prinzipiell von Gott. Sie sind kein Indikator für das Maß von Gottes Liebe, für die Glaubenstreue der Betroffenen, für die Konsequenz der Nachfolge. Im Gegenteil: Wir verstehen das Evangelium so, dass Gott sich gerade auch den Betroffenen in Liebe zuwendet, auch wenn ihre Befindlichkeit bleibt, sie wie ist. Viele Varianten von Leidenserfahrung ermöglichen sogar eine besondere Nähe zu Christus.

Nun müssen wir allerdings beobachten: In der Bibel ist eine positive Nennung oder Bewertung von Mehrgewichtigkeit nirgends zu finden. Fettleibige Menschen sind oft Vertreter einer bösen Haltung. Adipostät ist oft mit falscher Selbstzufriedenheit und Gottlosigkeit konnotiert. Die KI-Anwendung „Nikodemus.AI“ des ERF Bibleservers nennt als Ergebnis: „Tatsächlich gibt es in der Bibel keine prominente Figur, die ausdrücklich als ‚dick‘ oder ‚fettleibig‘ im positiven Sinne beschrieben wird. Körperfülle wird meist neutral oder sogar kritisch erwähnt – aber nie als Kriterium für Wert oder Gottes Segen.“


Schlussfolgerung

Was bedeutet das für die Frage, was Gott von den betroffenen Menschen erwartet? Welche ethischen Konsequenzen sind aus dem biblischen Befund zu ziehen?

Gar nichts! Gar keine Konsequenzen! Vielmehr gilt das zuvor Gesagte: Gott wendet sich diesen Menschen in Liebe zu und von ihnen wird nicht erwartet, sie müssten ihren Zustand überwinden, um Gott damit wohlgefälliger zu sein.

Damit ist aber das Argument prinzipiell entkräftet, das gegen praktizierte Homosexualität angeführt wird: In der Bibel komme Homosexualität nie in positivem Kontext vor, und damit sei eine ethische Aussage getroffen. Um der gedanklichen Klarheit willen und um der Bibel kein Unrecht zu tun, sollte dieses Argument nicht mehr verwendet werden.


Zwei abschließende Bemerkungen

Schlussbemerkung 1: Vermutlich sind von diesem Beitrag viele Menschen negativ berührt, die zu der Gruppe der Mehrgewichtigen / Adipösen / Fettleibigen gehören (die Begriffe sind strenggenommen nicht bedeutungsgleich). Ist es nicht unsensibel, aus diesem Lebensthema und/oder Krankheitsbild ein abstraktes Fallbeispiel zu machen? Ist es nicht verletzend, die Betroffenen heranzuziehen, um eine theologische Frage durchzudeklinieren? Geht das nicht über die Würde dieser Menschen achtlos hinweg?

Das mag sein; das können Betroffene im Einzelfall zu Recht so empfinden. Aber wir sollten dabei nicht übersehen, dass – in weit größerem Ausmaß und mit weit weniger Sensibilität – homosexuellen Menschen genau dies passiert, immer und immer wieder: Ihr persönliches Lebensthema, ihre Biografie wird oft instrumentalisiert, um Fragen des Bibelverständnisses abzuhandeln. Homosexuelle Orientierung wird von vielen, die in christlichen Kreisen das Wort ergreifen, nicht als Thema der Seelsorge und Lebenshilfe angesprochen, sondern als Thema der Schriftauslegung, der Dogmatik und der Prinzipienethik. Das ist unsensibel, verletzend und geht über die Würde der betroffenen Menschen oft achtlos hinweg! Das Beispiel der Adiposität ist leider geeignet, auch diesen Zusammenhang spürbar zu machen.

Schlussbemerkung 2: Dieser Beitrag versteht sich, wie eingangs gesagt, als Mosaikstein. Die Absicht ist nicht, für das Gesamtbild von „Homosexualität und Bibel“ schon eine Vorentscheidung zu treffen. Es geht allerdings darum, für angemessene und saubere Argumentation zu werben. Das gilt unabhängig davon, wie man das Gesamtbild beschreibt und einschätzt.

Samstag, 17. Mai 2025

Hat Gott die Kontrolle?

Über essenzielle Fragen in turbulenten Zeiten

Wenn ein scharfer Wind über die Bergspitze pfeift, dann wird alles lose Erdreich abgetragen und der nackte Fels kommt zum Vorschein. Ungefähr diese Wirkung haben auch die vergangenen Jahre der Pandemie gehabt: Sie legen frei, was im Leben letztendlich trägt. Sie führen uns an unsere essenziellen Bedürfnisse.

Zu den Grundbedürfnissen, die wir wohl jetzt mehr denn je alle miteinander teilen, gehören sicherlich diese: Wahrheit statt Lüge; Sicherheit; Hoffnung angesichts drohenden oder miterlebten Todes; Zugehörigkeit; Orientierung.

Eins davon möchte ich beispielhaft herausgreifen: das Bedürfnis nach Sicherheit. Immer wieder höre oder lese ich das Bekenntnis: „Gott hat die Kontrolle.“ (Manchmal auch in scheußlich verhunztem Deutsch: „Gott ist in Kontrolle.“ Hm, nein, er ist in keine Verkehrskontrolle geraten.) Ich verstehe gut, was mit diesem Bekenntnis gemeint ist, und teile die Sehnsucht danach: Wir möchten glauben, dass Gott nichts entgleitet. Dass er auch in einer Pandemie unsere Leben bewahrt und das Schlimmste verhindert. Bloß: Kann man das in die Worte „Gott hat die Kontrolle“ fassen?

Maß nehmen an biblischer Sprache

Bei mir blinkt oft eine Warnlampe, wenn sich ein zunächst richtig klingender Satz nicht in biblischer Sprache ausdrücken lässt. Damit meine ich nicht Hebräisch und Griechisch. „Biblische Sprache“ ist für mich der „Dialekt“, der sich aus Redewendungen, prägnanten Ausdrücken, Gleichnissen und Sprachmustern zusammensetzt, so wie wir sie in der Bibel finden. Das ist ein Sprachschatz und eine Denkwelt, die wir nicht leichtfertig hinter uns lassen sollten. Ich persönlich möchte im Gegenteil daran Maß nehmen und mein Denken an der „Biblischen Sprache“ schulen lassen (ohne dass daraus Kanaanäisch oder alltagsfremdes Frommdeutsch wird).

Und da merke ich, dass „Kontrolle“ kein Wort der Bibel ist. Allenfalls üben menschliche Herrscher hier und da Kontrolle aus – aber von Gott kann man das so nicht sagen. Wie würde die Bibel stattdessen das nennen, was wir mit „Kontrolle“ verbinden?

Das Alte Testament spricht oft von der „starken Hand des Herrn“ oder seinem „mächtigen Arm“. Damit hat Gott sein Volk aus Ägypten herausgeführt; damit wird Gott – so hoffen die Psalmbeter – auch die anderen Feinde besiegen. Wie war das aber in Ägypten und auf dem Weg durch die Wüste in die Freiheit? Hatte Gott da alles unter Kontrolle? Die Macht des Pharao – ja, zumindest endlich am Schluss, nach einem langen Hin und Her. Andere Gegner, die später auftraten, außerdem Trockenheit und Mangel an Essen? Gott wusste dem etwas entgegenzusetzen. Aber er hat das Volk selten von Vornherein einen Umweg um diese Notlagen geführt. Er hat sie nicht vor der Not bewahrt, sondern aus der Not gerettet.

Unkontrolliert

Über eins aber hat Gott keine Kontrolle ausgeübt: über sein Volk selbst! Immer wieder haben sie sich bitter beschwert. Sie haben gegen Mose rebelliert, haben sich zudem ein Götzenbild gemacht, und Mose konnte Gott im Gebet so gerade noch ausreden, dass er sie in der Wüste umkommen ließ. Der Weg des Volkes sieht für mich schon ein bisschen unkontrolliert aus.

Die starke Hand des Herrn ist durchaus ein Schutz über seinen Leuten. Sie bahnt den Weg. Das ist aber – wieder nach biblischer Sprache – nur die eine Seite der Medaille. Die Hand des Herrn kann auch schwer auf seinem Volk lasten. Die Hand des Herrn kommt über auserwählte Menschen und nimmt sie in Beschlag (Propheten zum Beispiel). Dann hat Gott allerdings die Kontrolle, aber für die Beschlagnahmten wird es ungemütlich. Unter die starke Hand des Herrn sollen wir uns demütigen, und es kann auch schrecklich sein, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. „Gott hat die Kontrolle“ – aber gibt uns das die ersehnte Sicherheit? Zumindest keine Sicherheit vor Gott.

Freiwillige Selbstkontrolle

Immer wieder können wir sehen: Gott hat die Macht, aber er übt sie nicht aus. Er unterwirft sich offenbar einer „freiwilligen Selbstkontrolle“. (Ein Gott, der sich unter Kontrolle hat: Das wäre eine gute Nachricht für Griechen, Römer und Menschen des Alten Orients gewesen – mit ihren von Leidenschaften getriebenen und oft übergriffigen Gottheiten!)

Dass Gott so ist, das bewahrt uns die Freiheit und Mündigkeit. Aber es hat auch eine ernste, schicksalshafte Dimension: „Darum hat Gott sie dahingegeben“, sagt Paulus über die gottlosen Menschen. Gott lässt uns laufen – auch wenn wir auf den Abgrund zu rennen. (Auch wenn wir uns selbst durch ungesunden Lebensstil schaden, auch wenn wir die Erde verheizen ...) Wie viel „Kontrolle“ wir da in einer globalen Pandemie erwarten können, das ist eine Frage, die wir vielleicht nicht mit drei gut gemeinten Sätzen beantworten können.

Wasserbäche

Dennoch habe ich Hoffnung. Nicht auf Gottes Kontrolle. Aber darauf, dass Gott Einfluss nimmt. „Einfluss“ heißt: Der See mag auch noch andere Zuflüsse haben, die Gott nicht alle verstopft. Aber der „Ein-Fluss“, den Gott ausübt, ist gesundes Süßwasser.

Wenn ich die Nachrichten schaue und dort Politiker, Diplomaten, NGO-Vertreter, Diktatoren und Friedensstifter sehe, denke ich manchmal an das Bekenntnis aus Sprüche 21,1: „Das Herz des Königs ist wie ein Bach, vom Herrn gelenkt; er lässt ihn fließen, wohin er will.“ Ich hätte hundert Vorschläge, bei welchen „Königen“ Gott das auch noch tun müsste. Viel ist davon nicht zu sehen. Aber dass Gott Einfluss nimmt und die Willensbahnen der Mächtigen immer wieder kanalisiert, ist mein Gebet.