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Donnerstag, 19. April 2012

Theologie der Ergänzung


Die Frage, ob Gott alle Menschen am Ende für sich gewinnen wird, hängt eng mit einer anderen Frage zusammen: mit der Frage der Versöhnung. Das Schlagwort, das schon lange in der Christenheit diskutiert wird, heißt ja „Allversöhnung“. Um hier ein wenig Klarheit zu gewinnen, ist es also nötig, über die Versöhnung in Christus nachzudenken.

Deutungen des Kreuzes

Versöhnung mit Gott wird oft in Zusammenhang mit dem Kreuzestod von Jesus gesehen. Sein Tod ist ein stellvertretendes Opfer, das Versöhnung schafft, ähnlich wie Israels Opfer im Alten Testament von Gott gegeben wurden, um Versöhnung zu ermöglichen.
Diese Deutung des Kreuzestodes von Jesus wird gegenwärtig in der Theologie stark hinterfragt. Zum einen wird die Rückfrage laut: Sollte Gott wirklich ein Opfer nötig haben oder verlangen, um zur Versöhnung bereit zu sein? Was ist das für ein Gottesverständnis?
Zum anderen wird – zu Recht – darauf hingewiesen: Der Tod von Jesus wird im Neuen Testament auf sehr verschiedene Weise gedeutet, und die Sühnopfer-Vorstellung ist dabei nur eine von vielen. Sie sollte – so die Schlussfolgerung – nicht zur einzigen oder gar verbindlichen Deutung gemacht werden.
Dieser zweiten Frage möchte ich in diesem Beitrag nachgehen. Die erste Frage wurde im Beitrag zu 2. Korinther 5 schon gestreift.

Nachträgliche Deutungen

Zunächst sollte man festhalten: Alle geistlichen bzw. theologischen Deutungen des Todes Jesu sind im NT nachträgliche Deutungen. Der Tod dessen, den man für den Messias hielt, kam so unerwartet und war so verstörend, dass niemand vorher sagen konnte, es musste so kommen und es hatte einen klar zutage liegenden Sinn. Dieser Sinn konnte erst im Nachhinein gefunden werden. Ich bin skeptisch gegenüber denen, für die das Geschehen letztlich ganz glatt lief, nach der Melodie: Es musste alles so kommen, denn Gott hatte alles ganz wunderbar geplant. Nein – es hätte auch von Gott aus alles anders kommen können und sollen: nämlich dass sein Volk auf den letzten gesandten Boten hörte – nach dem Gleichnis in Mt 21 („das ist mein Sohn, vor dem werden sie Respekt haben“, V. 37). Doch es lief schief – weil Menschen es so wollten, nicht weil es unbedingt so kommen musste. (Dass Gott dann daraus etwas unvergleichlich Heilbringendes machte, ist eine andere Geschichte ...)

Neues Testament: Der Weg der Vielfalt

Das Apostolische Glaubensbekenntnis schließt den Tod von Jesus ein – zu ihm bekennt sich also die ganze Christenheit. Er steht unbestritten im Zentrum des Glaubens. Doch das „warum“ oder „wozu“ bleibt in der Formulierung „gekreuzigt, gestorben und begraben“ letztlich offen. Das Apostolische Glaubensbekenntnis lässt damit einen großen Raum für die unterschiedlichsten Deutungen offen. Diesen Deutungsraum erreicht es im Grunde durch eine „Leerstelle“. Es sagt nichts Konkretes. Die „Vergebung der Sünden“ wird erst später genannt, ohne Zusammenhang mit dem Tod von Jesus.

Das Neue Testament geht in ganz bemerkenswerter und charakteristischer Weise den entgegengesetzten Weg. Auch das NT erreicht einen großen Deutungsraum, aber nicht durch eine Leerstelle, sondern im Gegenteil durch eine große Vielfalt, eine Vielstimmigkeit des Bekenntnisses. Diese Wesensart des NT muss man ernst nehmen und wertschätzen. Das NT geht den Weg einer „Theologie der Vielfalt“, einer „Theologie der Ergänzung“.

Zum Beispiel Lukas

Lukas in seinem Doppelwerk (Evangelium und Apostelgeschichte) ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn man fragt, wie Lukas den Tod von Jesus deutet, dann bekommt man ein ganzes Bündel von Antworten. Theologen vermerken dies manchmal mit einer Art von Bedauern – als ob Lukas nicht so klar, nicht so präzise sei. Natürlich – Theologen lieben es, wenn eine These prägnant herausgearbeitet wird und nichts in der Schwebe bleibt. Diesem Bedürfnis kommt Lukas nun nicht entgegen. Aber seine spezielle Art, Jesus zu deuten, hat eben auch etwas zu sagen und hat ihren besonderen Stellenwert.
Lukas bietet folgende Deutungen des Todes von Jesus an (hier aufgeführt u.a. nach Eduard Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1989):

‹› Die Heilsbedeutung des Todes von Jesus wird nicht klar benannt.
‹› Der charakteristische Satz vom Lösegeld, wie er bei Markus steht, fehlt: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,45)
‹› Jesus ist vielmehr „gekommen“, um zu suchen und zu retten (nicht ausdrücklich, um sich als Lösegeld zu geben).
‹› Der Abendmahlsbericht – bei anderen biblischen Autoren der Ort, wo Jesus erklärt, er werde sein Blut zur Vergebung der Sünden vergießen – betont bei Lukas eher Jesus als den Dienenden.
‹› Das Kelch-Wort beim Abendmahl ist bei Lukas eher mechanisch in den Text eingefügt – es ist nicht erkennbar, dass Lukas sich damit besonderes auseinandergesetzt hätte.
‹› Allerdings ist die Deutung, Jesus habe sich für „unsere Sünden“ hingegeben, bei Lukas ebenfalls vorhanden: Philippus nimmt in Apg 8 deutlich Bezug auf Jesaja 53, wo diese Deutung unübersehbar ist.
‹› Insgesamt gilt für Lukas: Jesu gesamtes Wirken, nicht nur sein Tod, ist der Dienst, wobei sein Tod besonders eingeschlossen ist.
‹› Lukas erzählt lieber die ganze Fülle Jesu als dass er sich für präzise Christus-Titel (z.B. Messias, Lamm Gottes, Menschensohn etc.) interessiert. (Einige Titel kommen vor, sind aber in keinen besonders aussagekräftigen Zusammenhang gestellt.)

Lukas ist also jemand, der nicht den Weg wählt, sich auf eine theologische Kern-Interpretation festzulegen. Er geht einen anderen Weg: den der inhaltlichen Vielfalt. Die einzelnen Aussagen, die er über Christus und seinen Auftrag macht, ergänzen sich.

Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament

Wenn wir den Blick weiten auf das gesamte Neue Testament, dann finden wir ein ähnliches Ergebnis: eine vielfältige Deutung des Todes von Jesus.

Folgende Deutungen sind „im Angebot“ – wobei die einzelnen Vorstellungen z.T. nahe beieinanderliegen, aber dennoch voneinander unterschieden werden können:

‹› Jesu Tod als Gericht über die Sünde der Welt
‹› Bezahlung der Schuld. Diese beiden Deutungen haben einen juristischen Vorstellungshintergrund.
‹› Sühnopfer für die Sünde der Welt. Diese Vorstellung hat einen kultischen (gottesdienstlichen) Hintergrund, nämlich das jüdische Opferwesen.
‹› Versöhnung der Welt mit Gott. Hier sind die menschlichen Beziehungen der Vorstellungshintergrund.
‹› Loskauf des Menschen aus der Sklaverei der Sünde und des Verderbens. Diese Vorstellung kommt vom Sklavenwesen her – eine Erfahrungswelt, die jedem damals vor Augen stand.
‹› Waschung. Vorstellungshintergrund: jüdische Reinheitsvorschriften im Alltag.
‹› Sieg über die Mächte – im Hintergrund steht die Vorstellung vom Kampf.
‹› Äußerste Erniedrigung als Solidarität mit dem menschlichen Leben sowie Gehorsam gegenüber Gott

Wir sehen: Das Neue Testament hat weit mehr zu sagen, als dass der Tod von Jesus nur ein Sühnopfer oder eine stellvertretende Schuld-Bezahlung wäre. Der Segen des Kreuzes ist so reich, dass er ein dickes Bündel an Ausdeutungen erfordert.

Theologie der Vielstimmigkeit

Was wir hier beobachten, ist kein theologischer Betriebsunfall oder ein Anzeichen, dass die frühen Christen ihre wichtigsten Gedanken nicht richtig auf die Reihe bekommen hätten. Sondern wir sind auf einen grundlegenden Wesenszug der Heiligen Schrift gestoßen: das Nachdenken durch Vielstimmigkeit, durch Addition der Gedanken.

Das zeigt sich schon im Alten Testament: Wir haben parallel laufende Geschichtsberichte, die Königs- und die Chronikbücher. Als ein späterer Autor die Geschichte Israels noch mal unter besonderen Gesichtspunkten erzählte – in den Chronikbüchern –, hat es niemand für nötig gehalten, die Königsbücher nun auszurangieren. Beide haben nebeneinander ihre Bedeutung. Wir Leser werden für mündig genug gehalten, mit dieser Mehrfachüberlieferung klarzukommen.
Zwei Schöpfungsberichte ergänzen sich in 1Mo 1-2.
Etliche Psalmen stehen mehrfach in der Bibel – ohne dass das als überflüssige Doppelung betrachtet worden wäre. Der Wortlaut ist fast exakt gleich, aber das eine Mal sind Psalmteile anders miteinander kombiniert, ein anderes Mal steht der Psalm an einer zweiten Stelle noch einmal, also in anderem Zusammenhang. Auch das ergibt eine größere Bedeutungsvielfalt.

Im NT ist es nicht anders. Die frühe Kirche des zweiten bis fünften Jahrhunderts hatte schon sehr bald das Bedürfnis, die vier Evangelienberichte miteinander zu harmonisieren, aber das NT selbst hat die vier Berichte einfach nebeneinander, miteinander überliefert. Die Wiederholungen stören nicht. Die Spannungen und Widersprüche offenbar auch nicht. So kommt eine Vielstimmigkeit zustande.
Ähnlich ist es mit den „Haustafeln“ im Epheser-, Kolosser- und 1. Petrusbrief. Oder der inhaltlichen Nähe zwischen dem 2. Petrus- und dem Judasbrief.

Präzise ist so etwas nicht. In manchen Themen führt es zu Unschärfen. Aber gerade diesen Weg gehen die Denker der Bibel und die sammelnden frühen Gemeinden. So entspricht es ja auch der rabbinischen Denkweise: Die Wahrheit wird hier im Gespräch gesucht. Meinung A steht gegen Meinung B. Rabbi C hat vielleicht dann eine gute Lösung gefunden, aber die Meinungen A und B werden im Talmud dennoch aufbewahrt. Auch das ist eine Theologie der Ergänzung und Vielstimmigkeit.

Wer auch immer den Wunsch hat, biblisch denken zu lernen oder sein geistliches Urteilsvermögen sowohl am Inhalt der Schrift als auch an ihrer Sprechweise auszurichten – der muss sich auf diese Theologie der vielstimmigen Ergänzung einlassen.

Keine Streichungen beim Kreuz

Bemerkenswert ist aber nun: Von den verschiedenen theologischen Deutungen der Heiligen Schrift wurde eben nicht das Unwichtige oder weniger Aussagekräftige weggestrichen. Im Laufe der Zeit hat sich kaum etwas verschmälert oder reduziert.

Genau diesen Weg gehen allerdings in der heutigen theologischen Diskussion einige, die sich mit dem Tod von Jesus auseinandersetzen. Nicht wenige vertreten ernsthaft die These, dass man die Sühnedeutung oder das stellvertretend Opfer von Jesus heute ausklammern sollte (weil es nicht mehr vermittelbar sei). Bekannt geworden ist die Formulierung von Klaus-Peter Jörns: „Notwendige Abschiede“. Damit ist der Abschied eben von der Sühnedeutung und dem Opfergedanken gemeint. Hier wird die biblisch vorgegebene Theologie der Vielstimmigkeit verlassen.

Man kann die Sühnedeutung des Todes von Jesus sehr wohl in den größeren biblischen Zusammenhang stellen. Man kann sie dadurch auch durchaus relativieren. Man kann festhalten, dass sie zu bestimmten Zeiten den Menschen nicht so viel zu sagen hat wie andere Deutungen des Todes Jesu. Wer das tut, hat das vielfache Zeugnis des Neuen Testaments auf auf seiner Seite.
Aber man kann dieses Zeugnis des NT nicht dafür in Anspruch nehmen, sich von bestimmten theologischen Deutungen zu verabschieden. Damit wäre alles geradezu auf den Kopf gestellt. Denn das NT geht gerade den gegenteiligen Weg.

Der Segen der Vielstimmigkeit

In der gegenseitigen Ergänzung der biblischen Texte liegt eine große Weisheit, eine Kraft und ein tiefer Segen. Wenn die Bibel ihr Zeugnis in seinem ganzen Reichtum überliefert, kann jede Generation und jede zeitgeschichtliche Situation sich gerade von den Texten ansprechen lassen, die jetzt besonders bedeutungsvoll sind. Jede Zeit, jede Epoche hat ihre speziellen Herausforderungen – und damit auch ihre besonderen Texte, die hell leuchten. Gleichzeitig sind dann andere Texte eher im Schatten. Das ist völlig normal, dagegen ist nichts einzuwenden.
Zum Beispiel hat das Buch der Offenbarung immer seine besonderen Zeiten gehabt, in denen es wichtig war. Zu anderen Zeiten hat man es eher überblättert.
Allerdings gab es auch fast immer Leute, die dieses Buch gern ganz aus der Bibel aussortiert hätten. (Luther hätte auch den Jakobusbrief gern draußen gehabt.) Was wäre geschehen, wenn die Kirche das zugelassen hätte? Dann wäre die biblische Vielstimmigkeit ärmer geworden. Und nachfolgenden Generationen wäre die Möglichkeit geraubt worden, dass dieses Buch in einer aktuellen Situation womöglich wieder laut zu ihnen sprechen kann.

Der Weg des Aussortierens ist an dieser Stelle ein Holzweg.
Wenn bestimmte Aussagen zu bestimmten Zeiten nicht so relevant erscheinen, nicht so deutlich zu sprechen scheinen, dann ist es das beste, respektvoll weiterzublättern. Achtung davor zu haben, dass diese Texte aber als Gottes Wort bereits gesprochen haben und später wieder sprechen werden. Und ab und zu nachzusehen, ob man diese Texte etwa schon ganz vergessen hat – oder ob man ihnen mittlerweile nicht doch etwas ablauschen kann.

Komplette „Abschiede“ aber sind nicht nur unnötig, sie sind auch unklug. Sie sind nicht nachhaltig im Blick auf die Zukunft.

Das gilt nicht nur, aber auch für die Sühne- und Opferdeutung des Todes von Jesus.

Vielfalt mit einer Mitte

Die Sühne- und Opferdeutung des Todes Jesu ist also ein Klang unter vielen in der „Musik“ des Neuen Testaments. Ein Strang im reichhaltigen Aussagebündel.

Dennoch nimmt gerade diese Deutung eine gewissen Sonderstellung ein, die andere Deutungen des Todes Jesu so nicht haben. Ich halte die Sühnedeutung für sehr zentral.
Das ist zum einen an der Quantität zu erkennen: Diese Deutung wird doch von recht vielen Schriften des neuen Testaments vertreten.
Zum anderen meine ich, diese Deutung habe eine besondere Qualität: Sie steht am Anfang und in der Mitte der Glaubensüberlieferung.

Am Anfang: in 1Kor 15,1-3 überliefert Paulus ein Glaubensbekenntnis, das anerkanntermaßen sehr alt ist und längst vor Paulus in den Gemeinde in Gebrauch war. Hier wird u.a. bekannt: „dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift.“ Der Tod Jesu hat also ein Ziel – „für“ – und einen Deutungsrahmen: „nach der Schrift“. Welche Schriftstelle ist gemeint?
Es muss eine sein, in der das Ziel des Todes von Gottes Gesandten deutlich wird. Zwar gibt es eine Reihe von Schriftstellen, die vom Tode eines Gottgesandten reden (z.B. Dan 9,26; Sach 12,10), aber nur einen Zusammenhang, der ein Ziel, eine „Für“-Bedeutung des Todes angibt: Jesaja 53. Dies muss der Bezugs-Text für das alte christliche Glaubensbekenntnis sein. Damit aber ist klar: Die Sühnedeutung von Jes 53,4-6.10 war präsent von Anfang an in der Christenheit und war durchgehend verbreitet. Sie steht im Zentrum.
Im Zentrum stand sie auch jede Woche (oder öfter) im urchristlichen Gottesdienst. Denn in dessen Mitte stand das Herrenmahl. Das kann man heute noch ablesen an den Kapiteln 11-14 des 1.Korintherbriefs. Die Fragen, die Paulus hier behandelt, spiegeln ziemlich genau den Ablauf des Gottesdienstes wider, wie einige Bibelausleger sehr überzeugend herausgestellt haben. In der Mitte also das Mahl und in dessen Mitte das „Deutewort“: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird ...“ Für! Also stellvertretend. „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“. Das Blut in Zusammenhang mit Bund hat vom AT her Opferbedeutung.

So reich die neutestamentliche Verkündigung also auch ist, so vielfältig die Deutungen des Kreuzes: Die Sühnedeutung bildet die Mitte der Vielfalt. Von ihr kann man also nur sehr sehr eingeschränkt sagen: Das stellen wir heute an den Rand, weil uns die anderen Deutungen heute, in unserer Zeit, mehr ansprechen. Dieser Schritt will wohl überlegt sein und man muss wissen, was man da tut.

Fazit

Zweierlei müsste man neu in den Blick bekommen: Die „Theologie der Ergänzung“ als ein biblisches Grundmuster. Und die Sühne- und Opferdeutung des Kreuzes. Sie ist längt nicht die einzige Verstehensmöglichkeit. Aber dennoch keine verzichtbare Variante. Die Vielfalt hat eine unaufgebbare Mitte.