Einer der bemerkenswertesten Berichte über die Wirkung von
Gottes Wort steht in Nehemia 8. Der „Pastor“ der Israeliten – der Priester und
Schriftgelehrte Esra – bekommt einen Auftrag,
nach dem sich jeder echte Pastor die Finger leckt: Er soll dem Volk aus
der Bibel vorlesen. Die Leute selber wünschen das und holen Esra heran. Der tut
es nicht nur, sondern bringt gleich eine Abordnung von Bibel-Erklärern mit.
„Und sie legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, sodass
man verstand, was gelesen worden war.“ (Nehemia 8,8) Hm, muss man das extra
betonen: „sodass man verstand ...“? Na ja, erfahrungsgemäß gibt es auch die
andere Variante heutzutage – also muss man es extra betonen.
Stundenlang wurde aus dem Gesetz vorgelesen – und am
folgenden Tag ging es mit den Führungspersonen des Volkes weiter. Und dann
kommen zwei große Überraschungen – eine für die Israeliten damals und eine für
uns, die wir davon lesen.
Man kam zu den Abschnitten im Mosegesetz, in denen das Laubhüttenfest
angeordnet wird: Alle Israeliten sollen ein paar Tage lang in Blätterhütten
wohnen. Das war damals offenbar in Vergessenheit geraten. Sie entdeckten dieses
Fest ganz neu, es war eine frische, unverbrauchte Weisung.
Die zweite Überraschung – ich finde es jedenfalls überraschend:
Sie haben es sofort umgesetzt! Sind losgezogen, haben Zweige geholt, Lauben
gebaut und das Fest gefeiert.
Wie unwahrscheinlich es war, dass die Israeliten dieses
Gebot befolgten, muss man sich einmal klar machen: Das Volk war aus der Deportation in Babylonien
zurückgekehrt. Das Land hatte in Trümmern gelegen. In einer außerordentlichen
Anstrengung hatten Nehemia und die Israeliten die Stadtmauern wieder aufgebaut.
Hatten den Intrigen der Gegner dabei Widerstand geleistet. Endlich war die
Arbeit vollendet. Endlich eine befestigte, sichere Stadt! Endlich Schluss mit den
Provisorien! Endlich Mauern – Steine bedeuten hier Geborgenheit.
Und dann sollen sie plötzlich Laubhütten bauen – zur
Erinnerung daran, „dass ich, der Herr, das Volk Israel einst auf dem Weg von
Ägypten in sein Land in Laubhütten wohnen ließ. Ich bin der Herr, euer Gott!“
(3. Mose 23,43) Zeichen des Aufbruchs statt Sesshaftigkeit. Das Statussymbol
der Sicherheit – die Mauern – war plötzlich nicht mehr maßgeblich, sondern das
genaue Gegenteil sollte „inszeniert“ und gefeiert werden. Das Lebensgefühl der
Flüchtlinge, der Heimatlosen wurde heraufbeschworen. Bei nicht wenigen könnten
Narben der Seele wieder aufgebrochen sein. Das hatten wir doch endlich hinter uns!
Aber sie tun es. Bauen sich die Lauben und feiern das Fest.
Führen sich damit gegenseitig vor Augen: Wir sind im Tiefsten Aufbruchsleute.
Das, was wenige Tage zuvor erreicht wurde, der Mauerbau, ist nicht die Basis unserer
Sicherheit. Wir ruhen uns nicht darauf aus. Wir lassen zu, dass Gott uns zumutet,
startbereit zu bleiben.
Wie viele Gemeinden heute, wie viele Christen wären bereit,
diesen „Preis“ zu bezahlen? Keinen erhebenden Festakt zur Mauerfertigstellung
zu feiern (keine Sorge, der kommt auch noch: Nehemia 12,27-43), sondern dem
gegenteiligen Lebensgefühl Raum zu geben?
Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass die Bibel
wirken darf. So wirken darf wie damals bei Nehemia. Einen Kontrapunkt zum
wohlig-behaglichen und zuvor sauer verdienten Lebensgefühl setzen darf. Ich
finde es überraschend.
Wenn die Bibel wirken dürfte ... bei uns ... heute ...