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Samstag, 17. Mai 2025

Hat Gott die Kontrolle?

Über essenzielle Fragen in turbulenten Zeiten

Wenn ein scharfer Wind über die Bergspitze pfeift, dann wird alles lose Erdreich abgetragen und der nackte Fels kommt zum Vorschein. Ungefähr diese Wirkung haben auch die vergangenen Jahre der Pandemie gehabt: Sie legen frei, was im Leben letztendlich trägt. Sie führen uns an unsere essenziellen Bedürfnisse.

Zu den Grundbedürfnissen, die wir wohl jetzt mehr denn je alle miteinander teilen, gehören sicherlich diese: Wahrheit statt Lüge; Sicherheit; Hoffnung angesichts drohenden oder miterlebten Todes; Zugehörigkeit; Orientierung.

Eins davon möchte ich beispielhaft herausgreifen: das Bedürfnis nach Sicherheit. Immer wieder höre oder lese ich das Bekenntnis: „Gott hat die Kontrolle.“ (Manchmal auch in scheußlich verhunztem Deutsch: „Gott ist in Kontrolle.“ Hm, nein, er ist in keine Verkehrskontrolle geraten.) Ich verstehe gut, was mit diesem Bekenntnis gemeint ist, und teile die Sehnsucht danach: Wir möchten glauben, dass Gott nichts entgleitet. Dass er auch in einer Pandemie unsere Leben bewahrt und das Schlimmste verhindert. Bloß: Kann man das in die Worte „Gott hat die Kontrolle“ fassen?

Maß nehmen an biblischer Sprache

Bei mir blinkt oft eine Warnlampe, wenn sich ein zunächst richtig klingender Satz nicht in biblischer Sprache ausdrücken lässt. Damit meine ich nicht Hebräisch und Griechisch. „Biblische Sprache“ ist für mich der „Dialekt“, der sich aus Redewendungen, prägnanten Ausdrücken, Gleichnissen und Sprachmustern zusammensetzt, so wie wir sie in der Bibel finden. Das ist ein Sprachschatz und eine Denkwelt, die wir nicht leichtfertig hinter uns lassen sollten. Ich persönlich möchte im Gegenteil daran Maß nehmen und mein Denken an der „Biblischen Sprache“ schulen lassen (ohne dass daraus Kanaanäisch oder alltagsfremdes Frommdeutsch wird).

Und da merke ich, dass „Kontrolle“ kein Wort der Bibel ist. Allenfalls üben menschliche Herrscher hier und da Kontrolle aus – aber von Gott kann man das so nicht sagen. Wie würde die Bibel stattdessen das nennen, was wir mit „Kontrolle“ verbinden?

Das Alte Testament spricht oft von der „starken Hand des Herrn“ oder seinem „mächtigen Arm“. Damit hat Gott sein Volk aus Ägypten herausgeführt; damit wird Gott – so hoffen die Psalmbeter – auch die anderen Feinde besiegen. Wie war das aber in Ägypten und auf dem Weg durch die Wüste in die Freiheit? Hatte Gott da alles unter Kontrolle? Die Macht des Pharao – ja, zumindest endlich am Schluss, nach einem langen Hin und Her. Andere Gegner, die später auftraten, außerdem Trockenheit und Mangel an Essen? Gott wusste dem etwas entgegenzusetzen. Aber er hat das Volk selten von Vornherein einen Umweg um diese Notlagen geführt. Er hat sie nicht vor der Not bewahrt, sondern aus der Not gerettet.

Unkontrolliert

Über eins aber hat Gott keine Kontrolle ausgeübt: über sein Volk selbst! Immer wieder haben sie sich bitter beschwert. Sie haben gegen Mose rebelliert, haben sich zudem ein Götzenbild gemacht, und Mose konnte Gott im Gebet so gerade noch ausreden, dass er sie in der Wüste umkommen ließ. Der Weg des Volkes sieht für mich schon ein bisschen unkontrolliert aus.

Die starke Hand des Herrn ist durchaus ein Schutz über seinen Leuten. Sie bahnt den Weg. Das ist aber – wieder nach biblischer Sprache – nur die eine Seite der Medaille. Die Hand des Herrn kann auch schwer auf seinem Volk lasten. Die Hand des Herrn kommt über auserwählte Menschen und nimmt sie in Beschlag (Propheten zum Beispiel). Dann hat Gott allerdings die Kontrolle, aber für die Beschlagnahmten wird es ungemütlich. Unter die starke Hand des Herrn sollen wir uns demütigen, und es kann auch schrecklich sein, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. „Gott hat die Kontrolle“ – aber gibt uns das die ersehnte Sicherheit? Zumindest keine Sicherheit vor Gott.

Freiwillige Selbstkontrolle

Immer wieder können wir sehen: Gott hat die Macht, aber er übt sie nicht aus. Er unterwirft sich offenbar einer „freiwilligen Selbstkontrolle“. (Ein Gott, der sich unter Kontrolle hat: Das wäre eine gute Nachricht für Griechen, Römer und Menschen des Alten Orients gewesen – mit ihren von Leidenschaften getriebenen und oft übergriffigen Gottheiten!)

Dass Gott so ist, das bewahrt uns die Freiheit und Mündigkeit. Aber es hat auch eine ernste, schicksalshafte Dimension: „Darum hat Gott sie dahingegeben“, sagt Paulus über die gottlosen Menschen. Gott lässt uns laufen – auch wenn wir auf den Abgrund zu rennen. (Auch wenn wir uns selbst durch ungesunden Lebensstil schaden, auch wenn wir die Erde verheizen ...) Wie viel „Kontrolle“ wir da in einer globalen Pandemie erwarten können, das ist eine Frage, die wir vielleicht nicht mit drei gut gemeinten Sätzen beantworten können.

Wasserbäche

Dennoch habe ich Hoffnung. Nicht auf Gottes Kontrolle. Aber darauf, dass Gott Einfluss nimmt. „Einfluss“ heißt: Der See mag auch noch andere Zuflüsse haben, die Gott nicht alle verstopft. Aber der „Ein-Fluss“, den Gott ausübt, ist gesundes Süßwasser.

Wenn ich die Nachrichten schaue und dort Politiker, Diplomaten, NGO-Vertreter, Diktatoren und Friedensstifter sehe, denke ich manchmal an das Bekenntnis aus Sprüche 21,1: „Das Herz des Königs ist wie ein Bach, vom Herrn gelenkt; er lässt ihn fließen, wohin er will.“ Ich hätte hundert Vorschläge, bei welchen „Königen“ Gott das auch noch tun müsste. Viel ist davon nicht zu sehen. Aber dass Gott Einfluss nimmt und die Willensbahnen der Mächtigen immer wieder kanalisiert, ist mein Gebet.