Über essenzielle Fragen in turbulenten Zeiten
Wenn ein scharfer Wind über die Bergspitze pfeift, dann wird
alles lose Erdreich abgetragen und der nackte Fels kommt zum Vorschein. Ungefähr
diese Wirkung haben auch die vergangenen Jahre der Pandemie gehabt: Sie legen
frei, was im Leben letztendlich trägt. Sie führen uns an unsere essenziellen
Bedürfnisse.
Zu den Grundbedürfnissen, die wir wohl jetzt mehr denn je
alle miteinander teilen, gehören sicherlich diese: Wahrheit statt Lüge;
Sicherheit; Hoffnung angesichts drohenden oder miterlebten Todes;
Zugehörigkeit; Orientierung.
Eins davon möchte ich beispielhaft herausgreifen: das Bedürfnis
nach Sicherheit. Immer wieder höre oder lese ich das Bekenntnis: „Gott hat die
Kontrolle.“ (Manchmal auch in scheußlich verhunztem Deutsch: „Gott ist in
Kontrolle.“ Hm, nein, er ist in keine Verkehrskontrolle geraten.) Ich verstehe
gut, was mit diesem Bekenntnis gemeint ist, und teile die Sehnsucht danach: Wir
möchten glauben, dass Gott nichts entgleitet. Dass er auch in einer Pandemie
unsere Leben bewahrt und das Schlimmste verhindert. Bloß: Kann man das in die
Worte „Gott hat die Kontrolle“ fassen?
Maß nehmen an biblischer Sprache
Bei mir blinkt oft eine Warnlampe, wenn sich ein zunächst
richtig klingender Satz nicht in biblischer Sprache ausdrücken lässt. Damit
meine ich nicht Hebräisch und Griechisch. „Biblische Sprache“ ist für mich der
„Dialekt“, der sich aus Redewendungen, prägnanten Ausdrücken, Gleichnissen und
Sprachmustern zusammensetzt, so wie wir sie in der Bibel finden. Das ist ein
Sprachschatz und eine Denkwelt, die wir nicht leichtfertig hinter uns lassen
sollten. Ich persönlich möchte im Gegenteil daran Maß nehmen und mein Denken an
der „Biblischen Sprache“ schulen lassen (ohne dass daraus Kanaanäisch oder
alltagsfremdes Frommdeutsch wird).
Und da merke ich, dass „Kontrolle“ kein Wort der Bibel ist.
Allenfalls üben menschliche Herrscher hier und da Kontrolle aus – aber von Gott
kann man das so nicht sagen. Wie würde die Bibel stattdessen das nennen, was
wir mit „Kontrolle“ verbinden?
Das Alte Testament spricht oft von der „starken Hand des
Herrn“ oder seinem „mächtigen Arm“. Damit hat Gott sein Volk aus Ägypten
herausgeführt; damit wird Gott – so hoffen die Psalmbeter – auch die anderen
Feinde besiegen. Wie war das aber in Ägypten und auf dem Weg durch die Wüste in
die Freiheit? Hatte Gott da alles unter Kontrolle? Die Macht des Pharao – ja,
zumindest endlich am Schluss, nach einem langen Hin und Her. Andere Gegner, die
später auftraten, außerdem Trockenheit und Mangel an Essen? Gott wusste dem
etwas entgegenzusetzen. Aber er hat das Volk selten von Vornherein einen Umweg
um diese Notlagen geführt. Er hat sie nicht vor der Not bewahrt, sondern aus
der Not gerettet.
Unkontrolliert
Über eins aber hat Gott keine
Kontrolle ausgeübt: über sein Volk selbst! Immer wieder haben sie sich bitter
beschwert. Sie haben gegen Mose rebelliert, haben sich zudem ein
Götzenbild gemacht, und Mose konnte Gott im Gebet so gerade noch ausreden, dass
er sie in der Wüste umkommen ließ. Der Weg des Volkes sieht für mich schon ein
bisschen unkontrolliert aus.
Die starke Hand des Herrn ist durchaus ein Schutz über seinen
Leuten. Sie bahnt den Weg. Das ist aber – wieder nach biblischer Sprache – nur
die eine Seite der Medaille. Die Hand des Herrn kann auch schwer auf seinem
Volk lasten. Die Hand des Herrn kommt über auserwählte Menschen und nimmt sie
in Beschlag (Propheten zum Beispiel). Dann hat Gott allerdings die Kontrolle,
aber für die Beschlagnahmten wird es ungemütlich. Unter die starke Hand des
Herrn sollen wir uns demütigen, und es kann auch schrecklich sein, in die Hände
des lebendigen Gottes zu fallen. „Gott hat die Kontrolle“ – aber gibt uns das
die ersehnte Sicherheit? Zumindest keine Sicherheit vor Gott.
Freiwillige Selbstkontrolle
Immer wieder können wir sehen: Gott hat die Macht, aber er übt
sie nicht aus. Er unterwirft sich offenbar einer „freiwilligen
Selbstkontrolle“. (Ein Gott, der sich unter Kontrolle hat: Das wäre eine gute
Nachricht für Griechen, Römer und Menschen des Alten Orients gewesen – mit
ihren von Leidenschaften getriebenen und oft übergriffigen Gottheiten!)
Dass Gott so ist, das bewahrt uns die Freiheit und
Mündigkeit. Aber es hat auch eine ernste, schicksalshafte Dimension: „Darum hat
Gott sie dahingegeben“, sagt Paulus über die gottlosen Menschen. Gott lässt uns
laufen – auch wenn wir auf den Abgrund zu rennen. (Auch wenn wir uns selbst
durch ungesunden Lebensstil schaden, auch wenn wir die Erde verheizen ...) Wie
viel „Kontrolle“ wir da in einer globalen Pandemie erwarten können, das ist
eine Frage, die wir vielleicht nicht mit drei gut gemeinten Sätzen beantworten
können.
Wasserbäche
Dennoch habe ich Hoffnung. Nicht auf Gottes Kontrolle. Aber
darauf, dass Gott Einfluss nimmt. „Einfluss“ heißt: Der See mag auch noch
andere Zuflüsse haben, die Gott nicht alle verstopft. Aber der „Ein-Fluss“, den
Gott ausübt, ist gesundes Süßwasser.
Wenn ich die Nachrichten schaue und dort Politiker,
Diplomaten, NGO-Vertreter, Diktatoren und Friedensstifter sehe, denke ich
manchmal an das Bekenntnis aus Sprüche 21,1: „Das Herz des
Königs ist wie ein Bach, vom Herrn gelenkt; er lässt ihn fließen, wohin er
will.“ Ich hätte hundert Vorschläge, bei welchen „Königen“ Gott das auch
noch tun müsste. Viel ist davon nicht zu sehen. Aber dass Gott Einfluss nimmt
und die Willensbahnen der Mächtigen immer wieder kanalisiert, ist mein Gebet.