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Mittwoch, 23. April 2014

Von einem sperrigen Liedtext und einer Melodie, die Einspruch erhebt



„Gott ist noch Richter auf Erden“ – „Wer das Recht bricht, wird selbst zerbrochen“ – „Anklage gegen Menschen, die das Recht verdrehen“: Das sind Überschriften für den 58. Psalm in verschiedenen Bibelausgaben.

Das Gebet dieses Psalms geht mir nicht leicht über die Lippen. Die Gottlosen werden in all ihrer Gewalttätigkeit angeprangert, aber was der Beter ihnen wünscht, ist kaum weniger gewaltsam. Zugegeben: Sie sind die Täter. Sie tun anderen Böses an. Aber ist es nicht sehr einseitig, dass der Beter die Position des Gerechten einnimmt und sich an der Vergeltung freut, die Gott an den Gottlosen über wird oder soll? Schlägt das, wenn wir so beten, nicht sehr schnell in Selbstgerechtigkeit um? Macht das nicht blind für das Böse im eigenen Herzen?

Und wie soll ich als jemand, der an Jesus glaubt, folgenden Vers beten? „Freuen wird sich der Gerechte, wenn er die Rache anschaut; er watet im Blut des Gottlosen.“ (Vers 11) Bei aller Solidarität mit Gewaltopfern, bei aller Sehnsucht nach Gottes Gerechtigkeit – geht das nicht zu weit? Zwar stimmt es: Auch Jesus wird einmal als Richter kommen. Es wäre falsch, das auszublenden oder weichzuzeichnen. Aber wird Jesus als Richter dann Freude an der Vernichtung der Gottlosen haben? Wird er gern im Blut der Gottlosen waten? Oder wird bei seinem Urteilsspruch nicht vielmehr Schmerz über die Gottlosigkeit der Gottlosen mitschwingen?

Ich möchte den 58. Psalm als Gottes Wort respektieren. Aber ich kann ja nicht hinter das zurück, was ich bei Jesus gesehen habe – und auch schon beim barmherzigen Gott des Ersten Testaments. Wie also so einen Psalm lesen, beten?

Im ersten Vers hat dieser Psalm einen musikalischen Hinweis. Eine Melodie wird angegeben – angelehnt an ein damals offenbar bekanntes Lied. Dieser Psalm soll auf die Musik des Liedes mit dem Titel „Verdirb nicht“ gesungen werden. Wie das so ist mit bekannten Melodien: Wer sie hört oder singt, hört innerlich unwillkürlich den zugehörigen Text mit. Ob es den Israeliten mit dieser Musik auch so ging – sobald sie erklang, fiel ihnen ein: Das ist ja das Lied „Verdirb nicht“?

Diese Melodie steht in direktem Widerspruch zum Text dieses Psalms. Der Text fordert Vernichtung, die Melodie spricht sich dagegen aus. Ob das ein Schlüssel ist? Den Psalm in seiner Schroffheit stehen lassen, aber gleichzeitig eine andere Melodie dazu hören und „singen“ – die Jesusmelodie, die Melodie des Gottes, der „nicht von Herzen die Menschen plagt und betrübt“ (Klagelieder 3,33)? Würde der Text, der so weit entfernt von Jesus zu sein scheint, auf diese Weise angemessen eingeordnet, begrenzt, gedeutet?

Jedenfalls würde ich dabei nicht das Wort Gottes gegen ein verkürztes liebliches Jesusbild ausspielen. Sondern ich würde innerhalb des Wortes Gottes, Sektion Psalm 58, Vers 1 genauso ernst nehmen wie Vers 11. Und wenn ich dann diesen Psalm lese und zu beten versuche, höre ich die Melodie als „Subtext“ mit einer noch anderen Botschaft als die Verse 7-11. Ich bete dann „Zerschmettere, o Gott, ihre Zähne“ und bete gleichzeitig mitklingend: „Verdirb nicht“.